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Der arme Stephan


Die rauchige Schwertfeger- und Schuhflickergasse meiner Vaterstadt lag wie in einem Hohlweg, fast unterirdisch zu nennen, krumm und eng unter den hohen, breiten Straßen der Hauptstadt, so dass viele über ihr hinfuhren und gingen, die nichts von ihr sahen und wussten, und hinwieder die armen Leute, die in ihr wohnten, beinahe ganz abgeschieden von den übrigen Städtern lebten. Von dem Gerassel und Lärmen der großen Stadt vernahm man wenig in dieser Kluft, und das wenige wurde noch vom Klopfen und Hämmern der Schmiede übertönt. Über den alten, baufälligen Hütten lag ein beständiges Halbdunkel, und nur an hellen Sommermittagen fielen an einzelnen Stellen von dem Gewimmel der höher liegenden Straßen flüchtige Schatten zwischen die lodernde Flamme der Feueressen. Am Samstag abends aber da hörten diese früher auf zu zischen und zu sprühen, der Hammerschlag ruhte, und die rußigen Gestalten zogen sich aus der Werkstatt in die Stuben zurück; wenige einzelne gingen auch wohl hinauf in die Stadt, während die Weiber Fenster und Böden scheuerten und die Kinder in den Schlupfwinkeln und Bügeln der Hohlgasse ihre Spiele trieben. In solcher Feierstunde saß Stephan auf einem alten Balken vor des Nachbars Haus, und am ändern Ende des Balkens, halb gegen ihn gewandt, Nachbars Sabine. Jedes hatte seinen von vielem Gebrauch beschmutzten Katechismus in Händen, und sie lernten gar eifrig. Nur einmal griff Stephan unter dem Lesen in seine Tasche, holte ein Stück Schwarzbrot heraus und hielt es Sabinen hin, doch ohne ein Wort zu sprechen oder nur die Augen vom Buch abzuwenden. Sie nahm es mit einem kurzen "Dank!" und aß es langsam, während ihre Lippen sich leise fortbewegten und die Augen gleichfalls fest aufs Buch geheftet blieben. Endlich klappte Stephan seinen Katechismus zu, wandte sich herum und fragte: "Kannst du jetzt deinen Spruch, oder soll ich dir ihn lernen helfen?" "Ich kann ihn schon", antwortete Sabine, die sogleich nach ihm wie im Takte ihr Büchlein zusammengeschlagen hatte. "Gut", sagte Stephan, während sie näher zusammenrückten, "so können wir doch noch etwas plaudern." "Ach ja, du erzählst mir, wie du mit deinem Vater in das Dorf durch den langen Wald gegangen bist und den wunderlichen Mann gesehen hast." "Aber das hab ich dir ja schon so oft erzählt." "Ich möcht es doch wieder hören, ich bitte dich." "Nun, wie der Vater noch gearbeitet hat und auf die Dörfer hinausgegangen ist, den Bauern die Schuhe zu flicken, da hat er mich auch einmal mitgenommen, und wir sind in aller Früh fort gegangen. In der Stadt war's noch ganz finster und stille, und wie wir über den Berg gingen, wehte ein kühler Wind. Dann mussten wir lang an einem Wald hingehen, bis wir endlich über eine Brücke kamen." "Aber vorher", fiel Sabine ein, "kommt ja der Wasserfall." "Nu sieh, du weißt es ja schon", fuhr Stephan fort. "Es war aber wirklich ganz seltsam, weil wir den Bach so rauschen hörten und doch in der Finsternis nichts sahen. Da gehen wir in den Wald hinein und immer hinein, da war's vollends ganz Nacht, und oben in den Bäumen blies der Wind. Auf einmal sagt der Vater: 'Ich weiß nicht mehr, wo ich bin, wir sind irr.' Mir ward es bang; kein lebendiger Mensch, der uns den Weg hätte zeigen können; nur manchmal pfiff ein Vogel; der Vater lief aber immer voraus. Endlich wird's doch ein klein wenig heller, und die Sonne kommt zuweilen etwas durchs Gebüsch; auch wurden die Vögel immer lauter. Wie's Morgen wird, kommen wir auf einen Platz, ganz mit Moos bedeckt, voll Hügel und Bäume drauf, und das Gebüsch drunten war wie feurig, weil die Sonne aufging. Nun mussten wir bald durch ein dickes Gesträuch, und da ist wieder so ein Platz und ein schöner Felsen, ganz rot vom Frühlicht; auf der einen Seite fließt eine Quelle laut heraus über die Baumwurzeln hin, auf der ändern Seite ist eine Höhle, von vielem hellem, grünem Gras bewachsen, drin war's aber noch dunkel. Vor der Höhle saß ein Mann im Gras, mit weißem Mantel, schneeweißem Haar und schneeweißem, langem Bart; hinter ihm stand ein glänzender Spiegel aufgestellt und noch viele andere Sachen, die ich nicht mehr weiß; in seinem Schoß hatte er ein großes Buch, darin er las. Der Vater fragte ihn nach dem Wege, und ich zog die Mütze ab, er deutete aber nur stumm mit der Hand und sah uns nicht nach. 'Das ist auch so ein finsterer Waldbruder', sagte der Vater. Mir sah er aber nicht finster aus, denn er hatte ein helles blaues Auge, und ich war gern länger dort geblieben." "Und dann kamt ihr hinunter ins Dorf?" fragte Sabine. "Ja." "Und den möchtest du gerne wieder sehen?" "Ich möchte es wohl wünschen!" "Geh, ich würde mich fürchten", sagte sie und duckte sich zusammen. Indessen war es dunkel geworden, und im Zwinger fingen einzelne Lichter an durch die trüben Fenster zu scheinen, von der Stadt her aber war nur das einzige kleine Licht von der hohen Turmstube sichtbar. "Ich mag noch nicht ins Haus", begann Sabine wieder; "wir wollen jetzt, wie neulich, einander sagen, was wir uns wünschen." "Ich mag auch noch nicht hinein", sagte Stephan, "denn der Vater lärmt und schreit wieder so, und die Mutter weint, weil sie fürchtet, der Viertelsrichter werde kommen und sein Geld fordern. Ach, sonst, da wünscht ich mir freilich, ein Waldbruder zu werden und wohl gar..." "Und ich" - fiel Sabine ein - "ich möchte einmal Kammerjungfer bei einer Prinzessin werden. Da kam ich ins Schloss und sähe die schönen Stuben und die Königin und den König und hätte schöne Kleider und könnte ausfahren." "Ach, von dem allen möcht ich nichts", seufzte Stephan; "aber sieh, dort kommt wieder der alte Christoph mit seinem Stelzfuß; wenn ich den sich so nach Hause schleppen sehe oder wenn ich bei dem Studenten da oben bin, der so viele Bücher liest und so schön erzählen kann, und sehe ihm den Hunger im Gesicht an, oder wenn die steinalte Wäscherin da drüben immer von ihrem Sohn spricht, auf den sie gehofft hat in ihrem Alter und der nicht aus dem Kriege zurückgekommen ist, und ich komme nach Hause und deine und meine Mutter jammern zusammen - oh, da wünsch ich nur eines: Ich möchte recht, recht reich sein und allen armen Leuten helfen können!" "Ja, was hilft das", sagte Sabine, "wer einmal das Weltglück nicht hat..." "So sagt der Vater auch", erwiderte Stephan, "aber manchmal glaub ich doch, man sollte nur an einem Wunsch recht hängen und darnach ganz sich richten, so könnte es doch geschehen. Ich hab es auch dem Studenten gesagt; aber der schüttelte freilich den Kopf, und das Wasser trat ihm in die Augen. Hörst du ihn? Da bläst er wieder auf der Flöte und vertreibt sich den Hunger. Aber ich habe ja mein Brot noch nicht gegessen; ich will's ihm nur schnell bringen." "Du hast es ja mir gegeben, lieber Stephan", erinnerte ihn Sabine, während er in der Tasche suchte, "und du bist freilich gut und gäbst alles her, weil du weißt, was Armut ist; wärest du aber reich, so wärst du wohl auch anders." "Oh, wenn ich ein König wäre", rief Stephan; "das wäre meine einzige Freude, wenn ich allen Armen helfen könnte!" "Stephan!" rief die Mutter unter der Türe. "Du sollst hereinkommen und ins Bett gehen." Traurig gingen die Kinder auseinander. "Lass einmal das Klagen, Weib!" schrie in der Stube der Schuhflicker Anton. "Mach's wie ich, kümmre dich nichts drum! Hab ich Geld, so bin ich lustig, hab ich keins, so bin ich durstig! Und der Viertelsrichter soll nur kommen - bei meiner Ehr, ich stoße ihm meinen Pfriemen in den Leib. Dann nimmt sich hoffentlich die Justiz die Mühe, die ich mir sonst selber geben muss, mich nämlich aufzuhängen. Ich hab's ja schon lange gewünscht, dass er mir endlich einmal mein Handwerkszeug verkaufe. Denn solang ich das noch habe, hab ich noch Aussichten, solang man aber noch Aussichten hat, zappelt man noch. Nun wird er mir - hoff ich - bald den Schemel unter den Füßen wegziehen, der Viertelsrichter; und dann ist's recht, dass zuerst die durstige Kehle, die doch an allem schuld ist, für immer zufrieden gestellt wird. - Und darüber solltet ihr froh sein! Denn mein Leib ist ein rares Stück und eine sonderbare Komposition; namentlich der Magen, von Natur sehr wohl eingerichtet, mit Anspruch auf sechs Schüsseln und einige Nachtische und Kraftschlücke. Alle Morgen geht er in die Welt wie ein Bräutigam aus seiner Kammer; aber die Not flickt ihm einen großen Rüster auf, da sitzt er nun in meiner kläglichen Figur wie ein Riese, den man in einen engen Kasten hineingezwängt hat. Darum, wenn ich euch dieses Hungertuch zurückgelassen habe, werden die Gelehrten und Doktoren darüber herfallen wie die Raubvögel. Ihr müsst mich aber hochhalten, und der Meistbietende soll mich tranchieren dürfen. Das wird ein Reißen sein wie um Kaiser Carolus' Reichsapfel. Dann ist euch geholfen und mir auch." Indessen hatte sich Stephans ältere Schwester in taubem Schmerz aufs harte Lager gelegt und die Mutter die trübe Lampe gelöscht. Aber das kleine Hannchen kam zitternd zu Stephan und flüsterte ihm ins Ohr: "Mich hungert's so." "Oh, warte nur bis morgen, ich hole dir gleich in der Früh ein Brot", tröstete sie der Bruder und hob sie neben sich aufs Bett. "Jetzt hab ich mich müde geschrieen", sagte der Vater, indem er sich auf den Strohsack warf; "jetzt werd ich doch vielleicht schlafen können." Wie es nun ganz öd und still geworden war in der finstern Kammer, die Geschwister im Schlaf ruhig atmeten und endlich auch das Schluchzen der Mutter aufgehört hatte, nur das Schnarchen des Vaters die Stille unterbrach, da faltete Stephan seine Hände und betete: "O du lieber, reicher Gott, hilf einem armen Kinde und zeige mir eine Rettung aus dem Jammer. Lass mich den einzigen Armen auf der ganzen Welt sein; an den ändern, o himmlischer Vater, Lass mich ein Werkzeug deiner Barmherzigkeit werden!" Da drückte der Schlummer ihm sanft die Augen zu, und wie er in die Ruhe des tröstenden Schlafes überging, war ihm, als stünde der Waldbruder neben ihm und schaute ihn mit einem freundlichen Blick an. Ein schöner Sommerabend lag im himmelblauen Sonntagskleid über der Stadt, als von der hohen Domkirche die Vesperglocken tönten mit gewaltigem Klang und feierlichem Ruf. Da wandelten durch die stilleren Straßen die Mädchen in weißen Kleidern und die Chorknaben, die Ratsherren der Stadt und die Alten; und reich und arm nahmen die hohen, gotischen Kirchenpforten mit weit geöffneten Armen auf in ihre ernsten Hallen, welche abwechselnd von der Chormusik und heiliger Stille und flüsternden Gebeten erfüllt wurden. Unter der Menge, die mit heiligem Frieden den lauten Tag schließen wollte, ging auch Stephan bleich und traurig. Denn in des Vaters Haus war der Viertelsrichter gekommen und hatte gedroht, wenn am Montagabend nicht die Steuer und sein Anlehen bezahlt sei, so werde er ohne weitere Geduld und Nachsicht des Schuhflickers Anton Handwerkszeug und ärmliche Habe verkaufen. Aber noch besänftigte den Schmerz in der Kindesseele ein frommes Vertrauen, und so kniete er hinter eine Säule mit stillem Beten. Als die Orgel verklungen und der Gottesdienst vollendet war und in der Dämmerung die Leute auseinander gingen und ihre Häuser suchten, stand Stephan vor der Kirche in einer Ecke, stumm an ein steinern Bild gelehnt, und sah den verschiedenen Gestalten nach, wie sie in Haufen vom breiten Platz in die Straßen sich zerstreuten. Da kam eine kleine Schar Knaben aus einer Gasse, die eifrig etwas zu verabreden schienen und an der Kirche mit ändern zusammentrafen. Es waren Schulkameraden von Stephan, und als ihn einer erblickte, riefen sie ihn auch herzu, mitzukommen. "Heute will ich ihn euch zeigen", sagte der Größte; "aber dass keiner ein Wort redet, und dann laufen wir, was wir nur können." Bange Neugier und eine ängstlich-frohe Erwartung war in den gespannten Mienen und unruhigen Bewegungen der Knaben zu lesen. Mit wenigen, undeutlichen Reden eilten sie durch viele Straßen, und Stephan zog, ohne zu fragen, unter ihnen hin. Sie kamen endlich bis in die hintersten, engen Gassen. Nachdem sie von hier durch Höfe und Gräben und Zwinger gekrochen waren, gelangten sie an die uralte, hohe, von gewaltig festen Steinen erbaute Stadtmauer. Hier schlüpften sie durch eine Schießscharte in einen großen finstern Turm. Jetzt zog der Anführer eine Kerze hervor, schlug Feuer, und als ihr schwaches Licht allmählich die schwarzen Wände zu erhellen begann, sahen sie sich vor einer halbverfallenen Treppe. Der Führer betrat diese, ein Knabe hielt sich am ändern, und so kletterten sie auf, bis sie eine kleine Türe in einen Gang einließ, wo ihre leisen Fußtritte wie ein schauerliches Stöhnen von den Mauern widerhallten. Der Gang war sehr lang und wurde immer enger, und mühsam wanden sie sich durch seine Krümmungen. Einige Stufen führten sie wieder abwärts durch mehrere offene Türen. Als sie an die letzte kamen, die zugemacht war, gebot ihnen der Anführer mit ängstlich-strenger Miene, dass keiner einen Laut von sich gebe. Dann öffnete er die Türe, und sie stiegen leise eine steile, hölzerne Treppe mit vielen Absätzen hinan. Noch einmal legte ihnen, als sie endlich oben waren, ihr Vortreter Stillschweigen auf, setzte hierauf sein Licht auf die Erde unweit einer kleinen Türe und winkte nun den Nächsten herzu. Leise und ängstlich schob er den Deckel vom Schlüsselloch weg, und kaum hineingeblickt, fuhr er zurück und flüsterte fast unhörbar: "Ja, er sitzt wirklich drinnen." Da drängte sich von den Knaben einer nach dem ändern herzu, und die stummen Gebärden derer, die hineingesehen hatten, drückten bald Entsetzen, bald Verwunderung und heimliche Freude aus. Auch Stephan blickte hinein, da war ein großer, weißer Saal, nur halb im Licht, halb beschattet. Am Ende desselben hing eine große Lampe herab, aus deren kristallheller Schale die feinsten Purpurstrahlen wie rote Lichtfaden auf einen großen Tisch hinspielten, an welchem vor einem langen Buche und mit dem Rücken gegen die Tür gekehrt ein großer Mann saß. "Das ist der Waldbruder", sagte Stephan freudig erschrocken in seinem Herzen. Es war dasselbe weiße, faltenreiche Gewand, es waren die großen, silbernen Locken, welche die Schultern bedeckten, wie er sie an jenem Morgen im Walde gesehen hatte. Auch das Buch schien ihm ähnlich, an dem der hohe Mann unausgesetzt fortschrieb und nur von Zeit zu Zeit seine lange Feder in einen großen Becher mit goldheller Tinte eintauchte. Tief ergriffen konnte Stephan nicht ablassen, durchs Schlüsselloch zu sehen, und wünschte nur, um ihn völlig zu erkennen, auch die Augen des Schreibenden zu schauen, als er plötzlich von einem Geräusch, gleich als rückte der Alte seinen Stuhl, erschreckt wurde. Der anführende Knabe ergriff in verwirrter Bestürzung das Licht so hastig, dass es erlosch, und mit ihm polterten die ändern in schreckenvoller Flucht, einige mit lautem Angstgeschrei, die Treppe hinunter, und Stephan hörte ihre eiligen Fußtritte und bangen Stimmen den langen Gang hinab in vielfachem Echo widerhallen. Da stand er zitternd, beinahe hätte er es wagen mögen hineinzugehen; aber seine Bangigkeit, sich allein nicht mehr aus den alten Mauern finden zu können, wurde doch von der Furcht, drinnen etwas Unheimliches zu erfahren, überwogen, und er entschloss sich, den Knaben, von welchen er schon nichts mehr hören konnte, zu folgen. Glücklich kam er die hölzerne Treppe hinunter und drang auch nach einigem Suchen durch die offenen Türen in den Gang. Hier zwängte er sich mit Mühe durch die engen Windungen und tappte angstvoll in der dicken Finsternis herum; als er aber bei einigem Vorwärtsschreiten die Erweiterung des Ganges bemerkte und sich freier fühlte, beschleunigte er seine Schritte; endlich lief er geradezu, und plötzlich stürzte er die steinerne Turmtreppe hinab. Zum Glück hatte er sich, außer einigen harten Stößen und einer leichten Verwundung der Hand, nicht beschädigt. Aber nun brauchte es lange Zeit, bis er die Schießscharte fand, durch die er mit seinen entflohenen Kameraden eingeschlüpft war. Vergebens rief er nach diesen, sie waren nach Hause zerstreut. Endlich fand er die Öffnung, nachdem er einen Stein, den noch ein Knabe vorgeschoben haben mochte, hinaus gestoßen hatte. Wie erleichtert fühlte er sich, als er draußen auf dem freien Rasen stand und die Mauern, die schon das Mondlicht erhellte, hinter sich sah. Freudig erhob er seinen Blick zu dem Nachthimmel, der ihm mit seinen blinkenden Sternen eröffnet war, und zuerst konnte er nur mit Grauen daran denken, dass es ihm gedroht habe, in dem unheimlichen Gebäude, das ernst und grau, vom Mondschein gebleicht und in schauerlichem Schweigen dastand, übernachten zu müssen. Aber gerade jetzt, da er sich daraus befreit sah, wenn er den Saal mit seinem lieblichen Licht und den wunderlichen Alten sich vorstellte, glaubte er, unrecht getan zu haben, dass er es nicht gewagt hatte, hineinzugehen und den hohen Greis anzureden, schon so nahe daran, den seltsamen Mann kennen zu lernen, welchen er sich nur freundlich denken konnte und der ihm schon seit jenem Morgen im Walde in sein inneres Leben gedrungen dünkte. "War er nicht erst gestern im Schlafe bei mir?" fragte er sich in unbestimmter Erinnerung. "Oh, er ist gewiss besser, ist mehr als die ändern Menschen; darum lebt er so für sich allein. Er muss wohl auch ein mächtiges Wesen sein, das mir vielleicht helfen möchte." Zugleich mit diesen Gedanken regte sich in Stephan der Entschluss, wieder einmal in diese Hallen und Gemächer einzukehren. Während er deshalb sorgfältig Gang und Treppen in sein Gedächtnis zurückrief, hatte er fast unbewusst durch einen Haufen Steine sich vor der Schießscharte ein Kennzeichen gemacht. Da er nun aber aufblickte und nah und fern aus der Stadt tausend hohe und niedere Lichter von den umdunkelten Häusern ihm entgegenblitzten, dachte er erschreckend an die Angst, welche die Seinigen um ihn empfunden haben möchten; und er strengte sich nun doppelt an, durch die Straßen zu rennen und die rechte Richtung nach Hause zu gewinnen. Er fand sich näher an seinem Zwinger, als er geglaubt hatte, indem er bald einige Durchhäuser erkannte, die ihn zu demselben führten. Während er um die erste Ecke seiner Gasse ging, hörte er schon den Vater mit wilder Stimme singen: "Herr Bruder, waren's nicht goldene Zeiten, Da wir miteinander ins Feld täten reiten? Jetzt bist du ein Schneider, ein Schuster ich, Jetzt lebst du mager, ich kümmerlich. Herr Bruder, wir wollen nicht länger hier bleiben. Ich will meine Ahle den Erben verschreiben. Vermach du dein Bügeleisen der Stadt, Du hängst dich an Faden und ich mich an Draht." "Ach, Vater", seufzte er, indem er einige langsamere Schritte tat, um Atem zu holen, "wie kann's besser werden, wenn du böse Gedanken hast!" Da rief ihn plötzlich seine älteste Schwester an, die aus einem Winkel ihm entgegenlief. Mit großer Freude, ihn gefunden zu haben, erzählte sie ihm fast atemlos, dass sie ihn lange schon überall, zuerst bei Nachbars, beim Studenten, bei der Wäscherin und dann in der halben Stadt, gesucht habe. Indessen waren sie zu ihrer Hütte gekommen, und der Vater, der sein Lied wiederholt hatte, sagte zur Mutter: "Gönn mir doch, Weib, diese Erholung in meinen Freistunden, besonders gegenwärtig, wo mein ganzer Tag nur eine Freistunde ist. Und für den Buben ist mir's gar nicht bange. Ja, wenn er in einer so guten Mästung säße, dass der Tod denken müsste: Der kommt gar nicht, wenn ich ihn nicht selbst hole, und ich will das fette Bisschen nur ein tun, eh der Speck abnimmt - so aber kann der Tod ruhig warten, bis ihm der Hunger - Nu, siehst du! Da ist er ja! - Höre, Junge", wandte er sich zu Stephan, indem er ihn zwischen seine Knie zog und bei beiden Schultern anfasste - "weißt du wohl, dass jetzt ein rechter Vater eine wohl zusammengesetzte Amtsmiene annehmen und ein langes Examen halten würde, ein hochnotpeinliches Halsgericht und zum Abschluss mit prompter Justiz den Urteilsspruch mit höchsteigener Hand vollziehen würde, höchstens mit Hilfe eines Stockes. Oho, fürchte dich nur nicht! Verstehst du, das tut ein rechter Vater, ein solcher, der seinem Sohn mittags auch ein Stück Fleisch auf den Teller legt - da, iss es mit Verstand! - der, wenn er seinen geschonten Pekesch ablegt, dem Sohn ein Christwams davon machen lässt; ein rechter Vater, sag ich, der seinen Sohn auch in eine Lehre bringt und schon ein Jahr vorher mit einem Dutzend Meistern spricht. Sieh, ein solcher, der den Branntwein nie hat ausstehen können und höchstens am Sonntag ein Gläschen Wein trinkt, der würde nun für dein Heil mit etlichen Bastionen besorgt sein - aber ich (hier vermochte Anton - sosehr ihm sonst sein gewohntes Lächeln, auch wo sein Herz am wenigsten davon wusste, zu Gebot stand - den bittern Zug, der ihm die Lippen zusammenpresste, nicht mehr zu unterdrücken), aber ich", rief er, "ein Lump, ein Säufer, ein Rabenvater." - Er ließ den Sohn los, und matt sanken seine Arme herab. Laut weinend warf sich Stephan in seinen Arm. "Geh, geh", sagte Anton und drückte ihn sanft von sich. Auch die Mutter brach in Tränen aus: "O Mann", schluchzte sie, "Gott kann ja doch noch helfen!" "Das hoffe nicht, Hanne", sagte Anton mit gebrochner Stimme. "Ich muss zugrunde gehen, und ich zieh euch mit hinein. Ich hab's wohl vorausgesehen. Der Mensch macht einen Fehler, und dann ist's geschehen. Ich hält nie heiraten sollen. Von dem Tag an, da ich den Säbel aus der Hand legte und das elende Schusterwerk ergriff, das ich nie recht verstanden habe, weil ich davon weggelaufen bin zu den Soldaten, von dem Tag an war's nichts mehr mit mir. Solang ich Soldat war, hab ich gelebt, seither verderbe ich. Wie oft haben mir die Kugeln um die Ohren gepfiffen: Hat sich keine die Müh nehmen können, mir in den Hals zu fahren? Das wäre mir Gnade, wenn ich gleich im Kartätschenfeuer zusammengeschmettert würde! - Und wenn ich erst hin bin, dann kann euch vielleicht geholfen werden." Hier fing er an zu pfeifen. Die Mutter betete auswendig - weil das Licht ausgegangen war - den Abendsegen, - er machte nur das Fenster auf und pfiff leiser fort. "Geht zu Bette", sagte er dann und brummte die Melodie seines alten Liedes vor sich hin. Als sich Stephan an die Seite des schlummernden Hannchens gelegt hatte, fing seine ältere Schwester neben ihm leise an: "Ach, du weißt noch gar nicht, Stephan, wie's uns geht. Wir werden nicht mehr lange hier bleiben. Nach der Abendkirche ist der Viertelsrichter wiedergekommen und hat gesagt, weil die Leute in unserer Gasse fast lauter liederliches Gesindel seien, das der Stadt zur Last fällt, so werden alle, die ihre Steuer nicht bezahlen können, zusammengepackt werden, und man wird uns nach den neu erfundenen Inseln schicken, von denen uns der Student erzählt hat. Die Häuser wird man niederreißen und eine Kaserne bauen. Nachbars müssen auch fort, und wir kommen auf die andere wüste Insel. Das war dir ein Jammern. Der alte Christoph und zwei Schmiedgesellen haben auf den Viertelsrichter und die Obrigkeit geschimpft und sind eingesperrt. - Mir ist alles einerlei." "Auf die wilden Inseln!" sagte Stephan. "Oh, leg dich jetzt nur ruhig schlafen. Gestern hast du nicht an so was denken können, und morgen kommt es vielleicht wieder ganz anders." Die Schwester erwiderte nichts; denn ganz ermattet lag sie schon in der ersten Betäubung des Schlummers. So warf auf bleiche Bilder der Not durch die niedern Fenster der Mond seinen kärglichen Schimmer. Stephan konnte die ganze Nacht kein Auge zutun. Entsetzlich war ihm der Gedanke, seine Heimat und die ärmliche Hütte, an die sein wenig frohes Jugendleben geknüpft war, verlassen zu müssen, zu scheiden von den Freunden, die gleiche Not ihm lieb gemacht hatte, und ein trauriges Schicksal zu erwarten in unbekannten Gegenden, die ihm Unerfahrenheit und jugendliche Einbildung schrecklich ausmalte. Besonders unerträglich schien es ihm, von seiner Gespielin Sabine sich zu trennen, die ihm immer vertraut, mit der er von Kindheit an alles geteilt hatte, die oft, wenn sie mit dem offenen schwarzen Auge an seinem Blick hing und seinen Reden kindlich horchte, ihn Schmerz und Hunger vergessen gemacht hatte. Immer aber drängte sich unter diese Betrachtungen die Vorstellung dessen, was er an dem vergangenen Abend so wunderbar zufällig erfahren hatte; und je größer ihm seine Not erschien, um so erhabener stellte sich das Bild des weißen Mannes ihm vor Augen. Ja, er soll alles wissen, sprach er endlich entschlossen zu sich selbst, er steht mir so fest im Sinne, dass es mir leicht sein wird, ihm zu vertrauen. Ich will bei ihm Hilfe suchen. Noch war es Nacht, als Stephan, von solcher Unruhe und Hoffnung getrieben, leise sein Bett verließ und in der Küche nach dem Feuerzeug suchte. Dies fand er bald, aber nach langem Herumgreifen erst war ihm ein kleines Stück Kerze aus einem alten Topf in die Hand gefallen. Nun schlich er sich getrost aus dem Hause und durch die Straßen, worin der erblassende Mondschein mit der ersten Morgendämmerung kämpfte. Eh er sich's recht versah, stand er schon in dem alten Turm und bemühte sich, sein Licht anzuzünden. Als ihm dies gelungen war und er eben die steinerne Treppe hinaufkletterte, konnte er sich kaum einer schweren Bangigkeit erwehren, da er so allein seine eigenen Tritte im öden Gang vernahm. Er überwand seine Beklommenheit, öffnete die Treppentür und nahm allen seinen Mut zusammen. Doch zitterte er so, als er oben an den Eingang kam, dass ihm sein kleines Licht entfiel und verlosch. Jetzt griff er ans Schloss, zog aber die Hand wieder zurück, schob erst den Deckel vom Schlüsselloch und sah hinein. Die feinen Strahlen der Lampe zückten ihm wieder entgegen, der Saal war aber leer und still; das große Pergamentbuch lag auf dem Tisch; doch soweit ihm der beschränkte Raum des Schlüssellochs den Einblick gestattete, war nirgends der weiße Mann zu sehen. Traurig und schüchtern zugleich trat er nun ein. Seinem unentschlossenen, fragenden Blick boten sich nur leere Wände dar, außer dass seltsame Zeichen an der Decke eine Weile ihn festhielten. Wie er eben diese betrachtete, war ihm, als würde eine Türe geöffnet; da er aber beim Umblicken nichts gewahrte, hielt er es für einen Ton der von ihm offen gelassenen Eingangstüre. Als er so eine Zeitlang noch unentschieden dastand, glaubte er eine ganz feine Stimme zu hören. Er fuhr zusammen; es war still und nichts zu sehen. Nach einem Augenblick begann es wieder: "Erlauben Sie!" und gleich darauf noch einmal: "Erlauben Sie doch gütigst!" Er blickte auf: "Ist hier jemand?" fragte er ängstlich und halblaut und suchte umsonst in allen Ecken nach einem Wesen für diese Stimme. "Belieben Sie doch nur gefälligst hierher zu sehen!" tönte es lauter. "I du meine Güte, hier, ganz hier!" wiederholte dieselbe Stimme. Es ward ihm ganz unheimlich, und da er immer noch niemanden erschauen konnte, dagegen auf einmal ein Krabbeln an seinem Fuße verspürte, wollte er fliehen, stolperte aber über das Krabbelnde und fiel auf den Boden. Hier wand sich unter ihm äußerst behände ein kleines Zwerglein hervor, dessen krauses graues Haar und graues Bärtchen wunderlich gegen die regen bläulichen Äuglein und das kindische Gesicht abstach. Indem es sich ungemein freundlich gebärdete und aufstehend ihn mit Lächeln anblickte, wobei sein geöffneter Mund eine Reihe perlenweißer Zähnchen blicken ließ, sagte es: "Ach, ich bitte doch tausendmal um Vergebung; ich würde unendlich bedauern, wenn mein Bester sollte einen Schaden gelitten haben. Ich habe zwar zu keiner Zeit eine so unproportionierte Größe, wie (nehmen Sie es doch nicht übel) bei den Menschen mir dies der Fall zu sein scheint; aber freilich vor Sonnenaufgang bin ich doch fast gar zu klein. Wenn aber Verehrtester die Güte haben wollten, sich noch so lange zu verweilen, so würden Sie sich vielleicht überzeugen, dass ich bei Tage eine ganz angemessene Größe besitze und auch sonst, vielleicht in betreff des Verstandes und der guten Sitten, mich rühmen dürfte, einige Ähnlichkeit mit den in allweg zu bewundernden Menschen zu haben." "Ach!" begann Stephan, fast sprachlos vor Erstaunen, "ach lieber..." "Pipi", fiel das Zwerglein ein, "belieben Sie Ihren gehorsamen Diener nur Pipi zu nennen!" "Ach, lieber Herr Pipi", fasste sich nun Stephan, "ich bin ganz betroffen und überrascht. Ich wollte es eigentlich wagen, den ehrwürdigen Mann aufzusuchen, der gestern hier war." "Meinen lieben, hoch verehrten Herrn - ja, er weiß davon." "Er weiß davon?" fragte Stephan erstaunt und gegen das Zwerglein gebückt, das eben anfing ein wenig zu wachsen. "Jawohl, was weiß der nicht!" erwiderte dieses, indem es sich auf die Zehen stellte und zierlich agierte. "Er ist aber diese Nacht ausgegangen und hat mir aufgetragen, Sie, mein Bester, höflichst zu empfangen und Ihnen einige von den kleinen Seltenheiten, die wir besitzen, zu zeigen und, wenn sie Ihnen gefallen, zu erklären, auch zu beliebigem Gebrauch zu überlassen." "Oh, lieber Gott", seufzte Stephan, "ich bin blutarm, ich kann nichts kaufen." "Ach, nicht doch, nicht doch, mein wertester Herr", sagte Pipi mit seitwärts gebogenem Hälschen und freundlich blinzelnd, "nicht zum Kauf, nur zu gefälligem Gebrauch für einige Zeit. Mein Herr hat - verzeihen Sie -eine sehr gute Meinung von Ihnen, und auch mir würde es sehr Leid tun, wenn Sie sich genieren sollten. Tun Sie doch ganz, als ob Sie zu Hause wären." Hiermit hüpfte er, schon wieder um etwas größer, in seltsamen Sprüngen nach einem Stuhl, welchen er, obgleich kaum mit seinem Kopf den Sitz desselben überragend, mit ungemeiner Leichtigkeit vor Stephan hinstellte. "Ich werde gleich die Ehre haben, mit einem kleinen Frühstück, so gut wir's in unserer einsamen Haushaltung vermögen, aufzuwarten." Mit einem Kratzfuß verschwand er durch ein kleines Türchen in die Wand. Noch hatte sich Stephan nicht von seiner Überraschung und seinem Erstaunen erholt, als der Zwerg durch das Türchen mit einem silbernen Krüglein und einer dunkelblauen leuchtenden Schale zurückkehrte. Er hatte jetzt seine volle Größe, so dass er ungefähr an Stephans Lenden reichte, und nun wagte es dieser auch, ihn aufmerksamer zu betrachten. Sein blaues Samtkleid spielte um die beweglichen Glieder, und das frische Gesichtlein mit den aufgeworfenen Lippen und der gebogenen Nase hatte etwas Gutmütiges, Ansprechendes. "Jetzt bin ich erst recht bei meinen Kräften", hob er an, "und sehr erfreut, nach langer Einsamkeit einen so werten Gast bei mir zu haben." Währenddem hatte er aus dem Krug einen goldhellen Trank in die glänzende Schale gegossen, kredenzte sie dem Stephan zierlich und sagte: "Nehmen Sie gefälligst vorlieb; es ist ein sehr heilsames Getränk, das nur mein Herr zu bereiten versteht, obgleich er es sehr mäßig genießet." Stephan trank; süß wie Honig und kräftig wie Wein rann es ihm die Kehle hinab, und er fühlte sich erwärmt und erfrischt zugleich; ja, es ergriff ihn ein fröhliches Vertrauen und eine belebende Munterkeit, wie er sie nie empfunden hatte. Das Zwerglein sah ihm freundlich zu, und seine lächelnden Züge zeigten, wie sehr es ihm jeden Schluck gönne. "Jetzt, wenn es Ihnen beliebt", fing er wieder an, zog einen kleinen, goldenen Hammer aus der Tasche und klopfte an die Wand, die einen hellen, vollen Klang von sich gab. Unter lieblichen, langsam ineinander fließenden Tönen wich nun die weiße Wand zurück, und allmählich quollen aus ihr hervor faltenreiche Purpurvorhänge, die in ein duftiges Gemach blicken ließen, in welchem eine Menge seltsamen Geräts teils umherstand, teils an der bemalten Wand hing. Als die Töne verklungen waren, ergriff das Zwerglein einen elfenbeinernen Stab und wies damit auf eine mit Zahlen bezeichnete Kugel, die in der rechten Hand eines alabasternen Engels ruhte, welcher am Eingang des Kabinetts stand. "Hier steht", sagte der kleine Cicerone, "eine Uhr, welche die guten und bösen Tage anzeigt, erstere mit dem goldenen, die bösen mit dem eisernen Zeiger. Ein astralisches Werk, welches der Großvater meines Herrn mit tiefem Studium verfertigt hat. Wollten Sie wohl gefälligst die rechte Hand des Genius fassen?" Stephan tat es frisch, denn der Trank durchglühte ihn mit frohem Mut. "O charmant", rief das Zwerglein, "Sie haben heute einen glücklichen Tag! Morgen - ach, das tut mir leid, morgen schon nicht so; da will der eiserne Zeiger vorkommen." "Und übermorgen?" fragte Stephan. "Verzeihen Sie - ich bedaure, nicht aufwarten zu können, aber die Uhr weist nur immer auf zwei Tage im Voraus." "Dieses goldene Gefäß hier", fuhr er fort und hob von einem hohen Becher den schön gearbeiteten Deckel, "enthält ein unscheinbares Wässerlein, welches aber die sonderbare, elementarische Kraft hat, wenn man etwas von dieser gelben Flüssigkeit mit Sonnenaufgang auf einem Gebirge ausgießt, eilends dahin zu laufen, wo es Gold gibt. Mein Herr selbst hat es in seiner Jugend bereitet." "Da sehen Sie ein Paar alte Schuhe", erklärte er weiter, ohne die Verwunderung Stephans zu bemerken. "Sie sind abgenützt, allein wer dieselben anzieht, kann vermöge ihrer magischen Kraft zwanzig Meilen in einem Tage machen, ohne müde zu werden. Mein Herr hat sie einem alten Rosenkreuzer in einem Wettstreit ihrer geheimen Künste abgewonnen; und dieselben - Ei!" rief er plötzlich abbrechend, "haben Sie doch die Güte, Verehrtester, einige Töne auf dieser Orgel anzuschlagen." "Mein liebster Pipi", sagte Stephan, "ich hätte zwar immer gern etwas Musik gelernt, aber mein Vater ist zu arm." "Ganz einerlei", fiel das Zwerglein ein, "tun Sie mir's doch zu Gefallen." Stephan setzte seine Hände auf die elfenbeinernen Tasten, und sie gaben so melodische Klänge von sich, dass er unwillkürlich fortspielte. Plötzlich hüpfte das Zwerglein auf, sprang ihm auf den Arm, umfasste seinen Nacken und küsste mit Tränen in den Augen seine Wangen, indem es ausrief: "O schön -herrlich! Nun kenn ich Sie, teurer Freund! Sie sind ein guter Mensch. Wissen Sie, dass im ändern Fall das unter siderischen Einflüssen verfertigte Instrument nur Misstöne von sich gegeben hätte." Er sprang wieder herab, und während er Stephans Hand noch festhielt, sagte er: "Ja, das hat die selige, liebe Gemahlin meines Herrn noch als Jungfrau gemacht und ihre Freier darauf probiert." "O mein Gott", rief Stephan, "ich habe ja noch gar nichts Gutes getan!" "Ei", sagte das Männchen, freundlich den Kopf schüttelnd, "das Instrument betrügt sich nicht; erst in einem halben Säkulum verliert es seine gnostische Kraft." "Nun, mein Guter", fuhr er fort, "hier sehen Sie einen Bogen von Löwensehnen mit straußfedernen Pfeilen. Wenn mit dieser magischen Waffe der schlechteste Schütze schießt, so trifft er unfehlbar. Mein Herr hat sie einem bösen Zauberer nach hartem Kampf abgewonnen." "Und was ist denn das hier für ein schwarzer Stock?" fragte Stephan, der nun schon alles Verwundern aufgegeben hatte, weil er wohl sah, dass er sonst gar nicht zu sich selber kommen konnte. "Ja", war die Antwort, "mein Bester, das ist ein rares Stück, eine besondere Zierde unserer Sammlung, welche in längst vergangenen Zeiten ein habsüchtiger Zauberer mit Gefahr seines Lebens und tiefgeheimer Magie gemacht hat. Es hat nämlich dieser Stab die wunderliche, teils elementarische, teils magische Eigenschaft, dass wer immer ihn fasst, sowie er sich damit einem Hause nähert, die Gestalt desjenigen annimmt, welcher gerade der stärkste Gläubiger dessen ist, der in dem Hause wohnt. Weil nun bei der Ausarbeitung dieses Stocks auch gute Geister waren, so hat er noch die besondere Natur bekommen, dass er eine Strafrute der Geizhälse und Betrüger geworden ist. Denn wer mit demselben vor einen solchen schlechten Schuldner tritt, bekommt nicht nur, wie gesagt, das Aussehen seines Gläubigers, sondern es ergreift auch den bösen Schuldner eines solche Angst, die ihn zwingt, sein Geld auszuzahlen, wenn er am wenigsten will; und überdies hat er hinterher alles wieder vergessen. Der Träger des Stocks kann es auch gleich merken, welche Art der Mann ist, zu welchem er gerade kommt. Denn ist es ein Wucherer oder Geiziger oder Dieb, der unter dem Zorn der astralischen Mächte steht, so poltert der Stab gleich beim Eintritt ins Haus so heftig auf den Boden und die Treppe, dass er in der Hand ganz schwer und dem Schuldner schon bange wird. Im umgekehrten Fall wird er ganz leicht." "Ach, du mein Himmel", rief Stephan, "wenn ich diesen Stock hätte! Dann wäre meinen armen Eltern und dir, gute Sabine, und allen Nachbarn geholfen, und ich wäre am Ende doch nur ein Strafwerkzeug der guten Geister." "Es freut mich unendlich, mein Wertester", kam ihm hier das Zwerglein mit größter Lebhaftigkeit entgegen, "dass Sie selbst mir die Gelegenheit bezeichnen, wie wir Ihnen gefällig werden können. Denn außerdem, dass mir der Auftrag meines Herrn, Sie nach Belieben von unsern mobilen Instrumenten Gebrauch machen zu lassen, gar fest im Gedächtnis ist, so hab ich auch - nehmen Sie's doch nicht übel - eine gewisse unwiderstehliche Neigung dermaßen zu Ihnen gefasst, dass ich Sie inständigst bitte, mich für Ihren ergebensten Freund und Diener anzusehen. Sie können des Stocks heute den ganzen Tag sich bedienen, ohne dass seine Kraft nachließe. Nur entschuldigen Sie mich, wenn ich zwei Bedingungen mir erlaube, dass Sie fürs erste keinem Seelchen das Geheimnis verraten und zweitens morgen früh unter Ihrer Haustüre mich erwarten, um mich den magischen Stab wieder abholen zu lassen." Stephan drückte seine Rührung und Dankbarkeit über die unverdiente und unbegreifliche Gunst seines Herrn und Pipis selbst in den bewegtesten Worten aus und stellte ihm die Not der Seinigen mit all seiner Treuherzigkeit in einfachen Zügen dar. "Ach, die Menschen! die Menschen!" rief das gute Zwerglein einmal über das andere, indem ihm die Tränen über die Backen liefen, "unter welch herrlichen Konstellationen stehen sie, in welchem Rapport mit den siderischen Mächten - und wie zerreißen sie alle diese Fäden und mauern sich in ein falsches Leben ein in ihren Städten und Häusern! - Doch, ja, ja. Eilen Sie, mein Wertester, nehmen Sie da den Stock - und gehen Sie keck damit in die Häuser der Selbstvergessenen. Sie werden Hilfe finden, Sie haben ja heute einen glücklichen Tag. So unbeschreiblich wert mir Ihre angenehme Gesellschaft wäre - so mag ich doch nicht so zudringlich sein, Sie ferner aufzuhalten." Stephan nahm entzückt den wunderbaren Stab seiner Hoffnung unter Versicherungen des Dankes und Versprechungen des Stillschweigens und der Rückgabe. Indessen hatte der Zwerg an einem jener roten Lampenstrahlen eine Kerze angezündet. "Ich hoffe auf das Vergnügen eines baldigen Wiedersehens, mein Bester", sagte er, "denn es wird mir fast ganz schwer, mich schon wieder von Ihnen zu trennen. Dann möchte es Ihnen vielleicht auch noch von einigem Interesse sein, unsere übrigen Seltenheiten genauer kennen zu lernen." Während dem öffnete er eine bisher von Stephan nicht bemerkte Türe des Saals, und dieser, der nun eine Treppe erwartet hatte, fand sich in einem dunklen Wald, der mit den mannigfaltigsten Blüten schimmerte und duftete und in welchem eine Menge Vögel aller Art und Größe in den verschiedensten Gruppen die Zweige erfüllten, hin und her flatterten und seltsame Stimmen hören ließen. Manches klang Stephan wie menschliche Rede. "Aber - stille jetzt!" sagte der Zwerg. "Nachher will ich Schule halten." Der Lärm verstummte, und Stephans kleiner Führer schwebte mit seiner Fackel so eilig durch die dunkelgrünen Laubgänge, dass jenem keine Zeit zum Aufenthalt und zur Besinnung blieb. An einer eisernen Türe machte endlich das Zwerglein halt, und während es die Fackel hoch emporhob, dass ihre Strahlen auf seine weinenden Augen fielen, sagte es: "Gehen Sie mit allen guten Geistern." "O Sie bester Freund!" rief Stephan, und siehe da - er stand auf der Straße am lichten Tag und konnte es nicht begreifen, wie die Milchmädchen so ganz gewöhnlich in die Häuser gingen, Mägde die Gassen fegten, die Perückenmacher und Barbiere in ihrem ordentlichen Geschäftstrab durch die Stadt liefen und alles so ganz alltäglich das gewohnte Wesen trieb; ja, hätte er nicht den Wunderstock in seinen beiden Händen gefunden, der ihn wie mit magnetischer Kraft weiter zog, er hätte alles für einen schönen Traum gehalten. "Nun, Glück zu", so sprach er sich selbst Mut ein und heftete einen vertrauensvollen Blick auf seine seltsame Waffe, "Glück zu, Sonntagskind, du musst heute Abend noch den Viertelsrichter geschweigen, der Mutter die Tränen trocknen, dem Vater einen frohen Abend machen und der Sabine die Schürze voll Taler schütten, dass du ihr einen vergnügten Blick abzwingst!" Somit trat er in ein schönes, großes Haus. Als er den ersten Treppenabsatz mutig erstiegen hatte, fiel sein Blick in einen Spiegel, wie solche in vornehmen Häusern an der Laterne angebracht sind, um ihr Licht verstärkt auszustrahlen. Ein verzerrtes, altes Gesicht blickte ihm daraus entgegen. "Bin ich das?" rief er und griff an seinen Kopf, erschrocken, sich gleichsam selbst verloren zu haben. "Du wirkst schnell", sagte er zum Wunderstock, der schwer auf die Treppe fiel - und nun bemerkte er auch an sich die zusammengesetzte Garderobe eines Wucherers. Als er aber wieder aufsah und das Gesicht im Spiegel ein Paar ganz bedenkliche, graue Augen an ihn machte, musste er lachen, erinnerte sich, dass er heute einen guten Tag habe, und flog die Treppe hinan. "Zum Henker, wer stört denn die Leute in der besten Morgenruh?" rief der Leutnant, im Bette auffahrend, und legte sein junges Gesicht in martialische Falten, als er seinen Gläubiger eintreten sah. "Du bist's? Alle Hagel, was fällt dir ein? Willst du dich wohl gleich trollen, oder soll ich dich in harten Talern und klingenden Kopfstücken bezahlen?" "Ich bitte gar höflich!" sagte der verwandelte Stephan, selbst erstaunt über seine veränderte Stimme, indem er sich mit dem Rücken gegen die Türe zurückzog und den Stock vorhielt. Im Gesichte seines Gegners stritten Ärger und Betroffenheit. "Du willst ein Karolin für die lumpige Pistole, und sie ist keinen Heller wert. Hätte ich's nur nicht verwettet, so würfe ich dir den Bettel vor die Füße. Ich sollte dir nichts geben, Spitzbube, als Prügel. Es ist sonst Grundsatz bei mir, keinen Wucherer zu bezahlen, weil ihr alle Schurken seid, und ich weiß gar nicht, was mich heute für eine Laune ankommt, dass ich dich noch nicht die Treppe hinuntergeworfen habe. Soll ich dich denn nach einem Monat schon bezahlen, eh du nur das dritte Mal drum gelaufen bist? Wetter! wer mutet mir denn so was zu? -Was packt mich denn für eine Großmut? Gib meinen Rock her, widerlicher Kerl, 's ist nur, dass ich deine unausstehliche Physiognomie vom Leib bringe!" Er zog den Beutel aus dem dargebotenen Rock, schüttelte einige Geldstücke heraus und warf, während er sie zusammenzählte, unruhige Blicke auf den Wucherer. Dann stieß er sie ihm in die Hand. "Jetzt pack dich und komm mir nicht wieder unter die Augen, oder ich schieße dich auf dem Fleck zusammen. Himmel!" fuhr er wieder auf, als der Wucherer draußen war, "bin ich denn über Nacht ein Narr geworden -Bursch, komm herein! - So könnt ich ja heute keine Whistpartie machen! - Bursch! - Will ich denn nicht in die Oper gehen? Bursch, Bursch! Wo steckst du? - Faultier!" schrie er seinen herein tretenden Bedienten an. "Hurtig, bring mir den Kerl wieder herein - er kann noch nicht zum Hause hinaus sein." Der Bediente kam bald wieder zurück und versicherte, der Herr Leutnant möge denken, was er wolle, er habe den Wucherer noch auf der Treppe, unter der Haustür und vor dem Hause gesehen; da sei er aber plötzlich verschwunden. "Was willst du denn, Esel, ich habe ja gar nichts von dir gewollt", sagte der Junker, legte sich auf die andere Seite und setzte seine späten Morgenträume fort. Der Bediente machte große Augen: "Kann einen denn auch ein purer, einziger Schnapskelch zum Frühstück betrunken machen?" brummte er vor sich hin, während er die Bürste holte, um seines Herrn Stiefel zu wichsen. Stephan schlenderte indes sehr erheitert die Straße hinab. Hab ich gleich zum Anfang, dachte er, diesen wilden Eber bezwungen, so wird es bei ändern doppelt gut gehen. Unterdessen war er an ein niedliches Häuschen gekommen, das etwas tiefer von der Gasse abstand als die übrigen, und hatte mit seinem Stock so hart an die Haustüre gestoßen, dass es einen schauerlichen Klang gab, der ihn selbst zusammenfahren machte. Aha, ich verstehe, sagte er zu sich und trat hinein. Im Vorhaus begegnete ihm ein Bettler. "Unbarmherziger Schlemmer!" murmelte dieser. "Er selbst isst und trinkt den ganzen Tag, und der Armut gönnt er keinen Brosamen." "Wart Er ein bisschen vor dem Hause, guter Freund", sagte Stephan zu ihm, während er unter den Taktschlägen seines Stocks tiefer hinein und einige Stufen hinunter nach einer Türe zuschritt, aus welcher eine heisere, klägliche Stimme kam. "Johann! Johann! Um Gottes willen, willst du mich denn verschmachten lassen! So höre doch! Vom Roten Nummer acht." Stephan trat in ein halbdunkles, nicht eben großes Zimmer, das aber mit seidenen Vorhängen verziert und voll prächtiger Möbel war. Auf einem tiefen seidenen Sofa lag in etwas altmodischen, aber kostbaren Kleidern ein unmäßig beleibter Herr, auf dessen rot angeschwollenem Kopf die milchweiße, großlockige Perücke anstatt einer warmen Kappe saß. Der runde Tisch, unter welchem dieser Mann seine Füße spreizte, stand voll Schüsseln. Die eine Hälfte derselben war schon verächtlich beiseite geschoben, und abgenagte Beine und Flügel machten sie einem geräumten Schlachtfelde ähnlich, während einige andere mit Wildbret, Sulzen und Austern, als frische Munition aufgepflanzt, den Augen näher gerückt waren, die vom Hinterhalt des Ruhebettes mit gereizten Blicken auf sie hinspielten; und gleich wie jene abgedankten von zwei leeren Flaschen abgeführt zu werden schienen, so marschierten sie unter Anführung zweier vollen dem Rand des Tisches und dem dortigen Silberbesteck in den fetten Händen entgegen. Als ganz abgemachte Sache hinwiederum war auf einem an die Wand gerückten Tischchen ein Service zu sehen, mit Schokoladespuren besprengt. Indem Stephan das goldene Zeitalter, das in diesem heimlichen Kabinett eingeschlossen schien, mit seinen Blicken zusammenfasste, hatte der Mastmann auf der Ottomane, nachdem er das schwere Besteck auf den Teller klappern lassen, seinen mächtigen Mund zu ärgerlichem Staunen geöffnet. Ein Pavian, der, als Stephan eintrat, auf einem großen vergoldeten Samtstuhl saß, hatte vor dem unwillkommenen Besuche sich unter den Lehnstuhl verkrochen. "Sind Sie's, Herr Nachbar", begann der Frühstückende mit heiserer Speckstimme, "ach, jetzt erkenn ich Sie, ich weiß nicht, warum Sie mir heute so besonders vorkommen, da ich doch nichts Verändertes an Ihnen bemerken kann. Aber meine Augen nehmen leider sehr ab, so wie auch mein Magen fast nichts mehr vertragen kann. Haben Sie meinen Johann nicht gesehen? Der gottlose Schlingel lässt mich gleich allein, wenn ich nur ein bisschen die Augen zumache. Ehrenfriedchen, komm doch hervor", wandte er sich jetzt zum Affen, indem er nach ihm die Hand unter den Lehnstuhl streckte, mit beschwerlichem Schnaufen, "du darfst nicht schüchtern sein, es ist ja nur der Herr Verwalter." Der Pavian drehte mit einer ängstlichen Fratze seinen Kopf gegen Stephan heraus und fuhr wieder zurück. "Willst du denn nicht?" sagte sein Herr mit milder Stimme. - "Ach, sehen Sie, das gute Tier ist in Verlegenheit. War nur mein Johann auch so treu wie du, mein Ehrenfriedchen - hat ganz mein Gemüt. Drum hab ich ihm auch meinen Namen gegeben. Wertester Herr Verwalter, hält Sie denn Ihre Frau Liebste noch immer so kurz? Sie kommen mir doch fast stärker vor." "Ich möchte nur gern mein Geld", wollte Stephan mit barscher Stimme sagen; denn der Unbekannte war ihm sehr zuwider, aber es kam doch noch ganz erträglich fein heraus. "Ja - so", dehnte der Herr und legte die große Prise, die er eben aus der Silberdose geholt hatte, langsam wieder hinein. "Ist es denn Ihr Geld? Ich dachte, es wäre aus Ihrer Armenkasse. Und Sie sagten ja - wenn ich nur -verstehen Sie - Sie wüssten es schon zu machen. Ich habe Sie ja auch gebeten, nächstens einige Mal mein Gast zu sein. Nur in dieser Woche kann's nicht sein. Verzeihen Sie - ich bin gar zu krank, das Reden greift mich schrecklich an, und die Esslust will mir auch ausgehen. Ich muss mich ordentlich zwingen. - Stehen Sie mir doch um Gottes willen nicht so nahe, es versteckt mir ganz den Atem. Ach, lieber Freund, ich bin übel daran. Das kommt von der Alteration. Ich habe mich gestern wieder erschrecklich alterieren müssen. - Der schöne Sommermittag lockt mich hinaus, und ich will es wieder wagen, gegen meinen Grundsatz, ein paar Straßen zu gehen. Ich rauche mein Pfeifchen, das mir ordentlich geschmeckt hat, und wandre so ganz ruhig dem Kaffeehaus zu, hatte auch schon meine Gedanken ganz aufs Kaffeehaus gerichtet. Ich gehe unbesorgt meines Wegs und schaue gerade einer Kompanie Enten zu, die nach einer Pfütze oder Gosse zulaufen, weil just aus einer Rinne Spülwasser herunter gegossen wurde; damit beschäftigte sich meine Phantasie gerade ganz anmutig - da fängt, Herr Verwalter, oben in dem Haus, unter dem ich vorüber krieche, vom Dach herab ein Gepolter an - es kracht, dass ich glaube, die ganze Geschichte kommt mit Stock und Block, mit Stahl und Eisen, Hund und Katze auf dich herunter. Himmel! ich ziehe den Kopf ein und mache einen Satz mitten in die Gosse hinein - da steh ich und warte voll Angst - was nun auf mich herunterkommen wird. Es kam aber gar nichts. Allein der forcierte Sprung, der Schrecken, die Überraschung, mit einem Wort die Alteration - ich war ganz krank - und wankte halbtot nach Hause. Es ist eine Schande für unsere Polizei - verraten Sie mich nicht, aber wie leicht könnte ein Mensch auf solche erbärmliche Manier vor der Zeit und bevor es eigentlich Gottes Wille ist, das bisschen Leben verlieren, das man sich notdürftig genug in unserer schlechten Zeit erhält, wo alle guten Nahrungsartikel so rar und so teuer sind. Ja, sehen Sie, und jetzt hab ich mich schon wieder am frühen Vormittag alterieren müssen. Kommt so ein Hund von Bettler herein getölpert, der sich kein Gewissen daraus macht, den letzten Groschen, den man seiner Gesundheit und seinem Alter schuldig ist, einem abzupressen, damit er ihn verprassen kann. Geben Sie mir doch ein andermal die Ehre, lieber Herr Nachbar - werter Herr Verwalter. Es bleibt bei der Verabredung - nächster Tage bitt ich mir das Vergnügen aus, und ich will ein ganz ausgesuchtes, feines, delikates, appetitliches Mittagsschmäus..." "Das Geld ist mir aber notwendiger", fiel Stephan ein, der unter dem gleichmäßigen Fortwälzen der Worte vergebens auf eine Pause gewartet hatte, "und ich muss ohne Umschweife darum bitten." "Nun, billiger Himmel, erschrecken Sie mich nicht!" erwiderte der dicke Herr. "Wo bleibt denn unser Kontrakt? Von was für einem Geld reden Sie denn? Haben Sie denn nicht gesagt, die Hälfte soll mir bleiben, wenn ich zeuge, dass das Geld richtig verteilt worden? Und anders zeug ich auch nicht. Für nichts und wieder nichts nimmt man so was nicht aufs Gewissen. Aber Sie mögen's vor dem Ihrigen verantworten, dass Sie mich wieder so alterieren!" Der Herr fing an kläglich zu keuchen und zu husten. Stephan ließ seinen Stock einige Mal durch die Finger fallen. "Gerechter Himmel!" stöhnte der Herr beklommen, "wie gehen Sie mit einem kranken Manne um, der Ihnen nichts zuleide getan hat. - Ehrenfriedchen, aporte, die Schatulle! - Aporte schön, Ehrenfriedchen." Der Affe hatte indes unter dem Sofa eine Schatulle hervorgekratzt, sie dem Herrn zähnefletschend hingereicht und sich schnell wieder zurückgezogen. Währenddem hatte sich dieser auf die linke Seite gewälzt, ächzend und schnaufend sich gestreckt, und nun arbeiteten seine schwülstigen Finger mit mühseliger Anstrengung in der Hosentasche nach dem Schlüssel. "Ach!" seufzte er, während er denselben die hochgewölbte Weste herauf schob. "Ich wette aber, an alledem ist niemand schuld als Ihre Frau. Wenn Sie aber einen uneigennützigen Freund nicht hören und sich von Ihrer Frau vollends zu Tode hungern lassen wollen", dabei blickte der Herr mit seinen matten Augen ängstlich auf zu Stephan, als hoffe er noch halb, ihn abzubringen. "Nun", fuhr er erschrocken zurück und wühlte in den Geldrollen, "ich hätte geglaubt, ein guter Bissen täte Ihnen Not; aber Sie wollen nicht. So ist's aus; ich lade Sie zu nichts, ich bezeuge nichts, ich will auch nie mehr einen ehrlichen Handel mit Ihnen zu machen versuchen. Hier sind netto fünfundfünfzig Taler -da haben Sie den Bettel wieder", sagte er, und seine wehmütigen Blicke folgten der Rolle, bis sie in Stephans Tasche verschwand. "muss denn alles auf mich hereinstürmen", jammerte er, sich wieder zurücklehnend, während der Affe die Schatulle wieder unterschob und Stephan ging. "Tun Sie mir doch wenigstens noch den Liebesdienst", rief er diesem nach, "und schicken Sie mir meinen Johann." Draußen stand noch der Bettler. Stephan gab ihm einen Taler. "Das schenkt Ihm der Herr da drin, Er kann sich selbst bedanken." Der Bettler schüttelte höchst erstaunt den Kopf und ging nach der Türe. Indessen kam auch der Bediente. Ohne auf das Gebrülle zu hören, das nun drinnen der Herr zwischen Bettler und Diener verteilte, eilte Stephan dem nächsten Hause zu. "Ich muss", sagte er mit Lächeln, "den säubern Nachbar und Armenverwalter doch auch kennen lernen, den ich soeben vorgestellt habe, und bin höchst neugierig, in welcher Gestalt ich meinem Doppelgänger erscheinen werde." Er war schon auf der Treppe, da er so zu sich sprach, und fand nun Gelegenheit, seinen neuen, schönen Anzug zu bewundern. Diesmal kommt's vornehm, dachte er. Eine gellende Stimme, die mit der Magd zankte, ließ sich hören. "Unfehlbar die Frau Verwalterin", bemerkte er und war auch kaum mit seinem Stock in das Zimmer gepoltert, als die robuste Hausgebieterin schon nachfolgte. Hier sah es weit anders aus als in dem Nebenhause. Ein paar braun vergoldete Spiegel und einige gemalte Vögel neben alten geistlichen Herrn waren die einzige Wandverzierung. Alle Möbelpracht vertrat ein einziger großer Wand- und Hausschrank mit einem Pult und vielen Schiebladen und Schlössern von braunem Nussholz, in welches der wohl längst verstorbene Künstler französische Schäferinnen eingelegt hatte. Das Krongesimse dieses ehrwürdigen Hausmagazins war mit einigem Porzellangeschirr verschanzt. Neben diesem Gebäude saß, als Stephan herein trat, ein langer, hagerer Mann im schmutzigen, hellblauen Hausrock, dessen gestreckter Hals mit dem braunen, struppigen Kopf über eine Schüssel hing wie ein dürres Winterzweiglein. Jetzt ließ er ab, die dünne Brühe zu schlürfen, und stand verlegen auf. Seine Ehehälfte, die jedoch weit mehr als die Hälfte auszumachen schien, nahm für ihn das Wort. "Ach, wenn Sie wüssten, Herr Kommerzienrat, was für eine schlechte Spekulation wir mit den Heringen gemacht haben, die Sie uns verschrieben, so würden Sie vielleicht nicht so zeitig kommen, den Posten einzufordern. Aber in unsern schlechten Zeiten kömmt man auf keinen grünen Zweig. Ich sage immer zu meinem Manne, gewinnen kann man gegenwärtig nichts, man kann nur sparen und erhalten. Das will er aber nicht hören, denn er ist auch von dem allgemeinen Luxus, von der Kleiderpracht, dem Wohlleben, der Verschwendung angesteckt. Ich kann die Leute nicht begreifen. Es hat sich in allem verändert. Mein seliger Vater, der hatte sich einen solchen Gang angewöhnt, dass er fünf Jahre in einem Paar Stiefel gehen konnte, ohne sie zu zerreißen. Freilich waren damals die Schuhmacher auch keine solche Spitzbuben. Jetzt, wenn ich Sonntag nachmittags zum Fenster hinaussehen will, muss ich's gleich aufgeben, um mich nur über den Gang der Leute nicht zu ärgern. Das schlendert und schlürft durch die Straßen, dass alle acht Tage ein Paar Schuhe durch sein müssen - und vollends die neuen Scharrkomplimente! So kann ich mich auch nicht genug ärgern über die phlegmatische Natur meines Mannes. Wenn er den Schnupftabak in seine Dose schüttet und die Hälfte ihm auf den Boden fällt, da macht er nur ruhig fort, als wäre gar nichts geschehen. Wenn er schreibt und die Feder taugt nicht gleich, weg wirft er sie und nimmt eine andere. Ei der Tausend, sag ich, kipp ein wenig vorne ab, und sie wird exzellent gehen. Das Geschreibe kostet ohnehin mehr Tinte, Papier und Federn, als es einträgt. Sonntags beim Kaffee (und zu dem Kaffeetrinken bin ich ungern genug gekommen), wenn ich gerade hinaus muss und er sich selbst einschenkt, schwimmt ein ganzer Milchsee auf dem Tisch herum, wenn ich zurückkomme. Das soll ich hinunterschlucken, als war's nicht der Rede wert." Während dem war der magere Mann mit kläglichem Gesicht vor den Schrank getreten, hatte mit seinen langen Fingern das Türchen geöffnet und klapperte nun in der Kasse herum. "Geh nur", fuhr die Frau auf ihn zu, "Lass nur mich machen, du bringst's doch nicht recht zusammen und gibst wieder Groschen für Kreuzer aus wie neulich." Der Gemahl wich. "Da mag ich ihm hundertmal", fuhr sie unter dem Zählen fort, "die schlechten Kreuzer für die Bettler auslesen und zeigen, wenn ich ausgehe. Komm ich nach Haus, sind richtig die guten fort." "Hier", sagte sie jetzt, "sind sechsundzwanzig Gulden neunundvierzig; davon kommen zwei Gulden Rabatt - so wird's recht sein", und reichte das Geld schnell hin. Stephan, obgleich misstrauend, nahm's, ohne zu zählen, und eilte fort; denn er dachte noch manchen ändern Besuch zu machen. Nachdem er beim Eintritt in einige Haustüren seinen Stock zu leicht gefunden hatte, um mit ehrlicher Leute Geld sein Gewissen zu beschweren, wandte er sich in eine andere Straße und wurde hier von seiner Zauberrute in den zweiten Stock eines neuen Hauses gezogen. Was hab ich in diesem kurzen Tag erlebt, und was werd ich noch erleben! sagt' er zu sich. Träum ich denn nicht? Aber nicht einmal träumen hätt ich in unserer armen Gasse ein solches Glück - nicht einmal einbilden hätt ich mir solche Veränderungen können! - Welche Menschen hab ich kennen gelernt! Da hüpfte ihm eine leichte Zofe entgegen: "Sind Sie schon wieder da, Madam Brabant? Sie werden meine Herrschaft im Lesen stören und wieder nichts ausrichten, wie immer. Es geschieht Ihnen recht. Warum arbeiten Sie ihr immer noch, da Sie doch wissen, dass Ihnen an jedem Konto die Hälfte abgezogen wird. Aber um alle Welt, was machen Sie mit diesem schwarzen Prügel?" "Es ist", stotterte Stephan, welcher den Reden des Kammermädchens und seiner Kleidung angemerkt hatte, dass er zur Putzmacherin geworden war, "eine neue Art von Haubenschachtel!" Verwirrt über seine missratene Ausrede klopfte er schnell an und kam in ein freundliches Zimmer, rings ausgeschmückt mit Gemälden schöner Ritter und Fräulein. Ein solches lag auch lebendig auf einer Ottomane in einem weißen Morgenanzug, nur dass ihr Gesicht den welken Rosen zu vergleichen war, die neben dem Sofa auf einem Tischchen standen. Um sie her lagen Bücher, auf einem in ihrer Hand ruhten ihre Augen, und noch lange, als Stephan-Putzmacherin vor ihr stand, tropften ihre Tränen auf die Blätter des Romans. Endlich blickte sie mit verweinten Augen auf. "Was? Sie da, liebe Brabant?" schauerte sie zusammen und schaute sie fragend und zerstreut eine Weile an. Dann nahm sie ihr Schnupftuch. "O Gott, ich bin so weich gestimmt", lispelte sie, während ihre Tränen flössen. "Was wollen Sie? Sie sollen alles haben. Ach ja! die neuen Spitzen sind noch nicht berichtigt. Gleich, liebe, gute Frau." Sie wankte an einen Sekretär und nahm verwirrt Goldstücke und Silbermünzen heraus. "Ich bin heute gar zu bewegt - so gerührt - so wehmütig. Ach, ich habe ein himmlisches Buch gelesen: Die Lust der Liebe und der Schmerz der Liebe! Hier, gute Brabant - es wird mehr sein, es wird zuviel sein - aber nehmen Sie nur - es ist schon gut."
Stephan wollte, als er die Hand öffnete, einen Bückling machen, es ward aber ein Knicks daraus. "Ach, der Schmerz der Liebe", seufzte das Fräulein, und er schlüpfte zur Tür hinaus.
"Mein Gott, wie ist mir", sagte sie zitternd, als Stephan die Treppe hinuntereilte, und fuhr mit der Hand über die Stirn. "Mir ist gerade, als wäre die Brabant in Gestalt eines schwarzen Stocks bei mir gewesen und habe mir Geld abgenommen. Das ist Krankheit - Fieber - niemand ist da gewesen." Sie klingelte, um den Arzt rufen zu lassen.
Auf der Straße ging Stephan an zwei Frauenzimmern vorüber, von welchen eine ebenso gekleidet war, wie er im letzten Hause und auch sonst einer Putzmacherin glich. "Ich habe", sagte sie zu ihrer Freundin, "heute einen schlimmen Tag. Es kam mir soeben an, als war ich mir selbst genommen. - Denken Sie sich die Narrheit - ich muss mitten auf der Straße ein Kompliment machen - und weiß nicht wem? Ein ganz fremder Herr sah mich erstaunt an und zog zweifelnd den Hut." Stephan erschrak und machte sich schnell davon auf einen neuen Platz. So drang er noch in manches Haus, und der Wunderstock machte gute Beute.
Die Nachmittagssonne schien wieder einmal recht warm und freundlich in die Gasse. Da hatte sich die alte Wäscherin in ihren reinlichen Kleidern vor das Häuschen auf die Bank gesetzt. Ruhig lagen ihre gefalteten Hände im Schoß, und ein milder Zug auf ihrem bleichen Gesicht zeigte, wie wohl ihr die lang entbehrte Sonnenwärme tue. Darüber sank ihr schwaches Haupt in Betäubung, sie schlummerte ein, und Träume besuchten sie. Sie sah ihren Sohn wieder, den blühenden, jungen Soldaten, wie er, schon zum Abmarsch gerüstet, von ihr Abschied nahm, und hörte ihn nochmals sagen: "Gott behüte Sie, Mutter, und wenn ich zurückkomme, soll Sie sich nicht mehr so plagen müssen!" Dann sah sie ihn wieder mit großer Bangigkeit in einem Schlachtgetümmel. Mehrmals glaubte sie ihn fallen zu sehen. Dann stand er immer wieder vor ihr und lächelte sie an. Endlich ist es ihr, als war es Abend und sie liegt müde in ihrem Stuhl in der finstern Stube. Da geht die Tür auf, und eine große Gestalt kommt herein, aber in der Dunkelheit sind ihr die Züge undeutlich und fremd. Jetzt tritt er ganz nahe, und es ist ihr Ferdinand. "Grüß Sie Gott, Mutter", ruft er, "kennt Sie mich noch?" Und auf einmal fällt es ihr ganz schwer auf die Knie, und er schüttet ihr die Schürze voll Geld. Sie hört es auch deutlich rauschen. Sie will auffahren. "Frau Liese! He! - Nachbarin Liese", ruft es immer lauter - und am hölzernen Tritt hört sie, dass der alte Christoph mit seinem Stelzfuß auf sie zugehüpft kommt. Wie sie die Augen aufschlägt und sich besinnt, dass sie im Gässchen vor der Haustür sitzt, steht er schon vor ihr.
"Ei, Sie muss mit mir kommen, Alte!" sagte Christoph, und seine schwarzen Augen funkelten aus dem graubärtigen Gesicht. "Was denkt Sie? Sie weiß ja, dass ich gestern den dummen Streich gemacht und dem Viertelsvogt die Wahrheit unter die Nase gesagt habe; dafür verschaffte er mir frei Logis ohne Aussicht. - Gerade haben sie mich wieder laufen lassen. Ich humple verdrießlich nach Haus. Wie ich in mein Loch krieche - denk Sie sich - steht auf meiner Bank (die mir ja schon lang als Tisch und Bett und Kasten dient) ein Krug mit Wein, ein Laib Brot und zwei mächtige Würste. Meiner Seel, ich bin kein Narr, 's ist wahr! Ist's vom Himmel gefallen - hat's ein guter Freund getan - ich weiß es nicht! Auf den Studenten möcht ich am ersten raten; aber wo hätte der das Geld dazu? Aber da ist's einmal, bei meinem halben Bein, das in der Magdeburger Schanze liegt! Nun, ich will's schon herauskriegen, wer mir den Streich gespielt hat. Er hat's wohl getan, damit ich mir einen lustigen Abend machen soll. Nun, bei Gott, das will ich auf seine Gesundheit tun. Aber Sie muss mir helfen, Frau Liese, allons, marsch! Setze Sie Ihre Beine in Bewegung - schau Sie mir nicht so starr ins Gesicht."
"Mein Gott, was ist das?" rief die Wäscherin mit aufgehobenen Armen. "Und mir träumt's eben, mein Sohn sei da gewesen und habe mir eine ganze Handvoll Geld - großer Gott! da, in meiner Schürze -" "Mohrensäbel!" fiel der alte Kriegsmann mit seiner Bass-Stimme ein, "was ist denn heute für ein Tag? - Mir regnet's Würste ins Haus, dir Taler in die Schürze. Närrisches Mütterchen! Dein Sohn kann nicht da gewesen sein - den hab ich selber eingraben helfen. - Aber dass heute e

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